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Ein (deutsch-niederländisches) Sommermärchen

Alexandra hat mich im buurtaal-Newsletter neulich als Huub, aka Michiel Zilvergras angekündigt. Vor 35 Jahren bin ich wegen der Liebe nach Deutschland gekommen. Ich unterrichte Niederländisch an einer Realschule und habe einen YouTube-Kanal. Im Mittelpunkt dieses Gastbeitrags steht der Sommer von 2006, der zu einem Wendepunkt in meinem Deutschlandbild wurde.

Nicht durch die gleiche Tür

Wenn zwei Kollegen nicht so gut mit einander klarkommen, weil sie unterschiedliche Ansichten über ihre Arbeit haben, sagt man im Niederländischen:

Die twee kunnen niet door één deur.

Genauso könnte man sagen: Niederländer und Deutsche passen auch nicht so gut „durch die gleiche Tür“. Jedenfalls war das so, als ich vor 35 Jahren als Niederländer nach Deutschland gezogen bin. Diesen Tiefpunkt hat 1993 die sogenannte Clingendael-Studie dokumentiert: Für viele Niederländer galten die Deutschen damals als die am wenigsten sympathischen Europäer. Lustig fand ich allerdings, dass die Spanier damals als die beliebtesten Europäer galten. Lustig? Ja, denn Spanien war doch vor 400 Jahren noch unser Erzfeind Nummer 1. Vielleicht sollten wir Niederländer uns nur ein wenig gedulden?

Fußball-Trauma

Dass das Deutschlandbild so ungünstig war, lag sicherlich am Zweiten Weltkrieg und an der Angst vor dem großen Nachbarn, die sich nach der deutschen Wiedervereinigung in den Niederlanden breit machte. Aber es lag ganz bestimmt auch an den Stellvertreterkriegen im Fußballstadion. Das Finale der Weltmeisterschaft 1974 wurde für die Niederländer zum nationalen Trauma („Wij waren de besten“ )Wir waren besser.; das Halbfinale der Europameisterschaft 1988 wurde zu einem Racheakt („eindelijk gerechtigheid „). Endlich Gerechtigkeit

Für mich persönlich wurde der September 2001 zu einem Tiefpunkt: Ihr denkt da wahrscheinlich an das Attentat auf das World Trade Center in New York, aber ein paar Tage davor wurden in Europa die letzten Qualifikationsspiele für die WM 2002 ausgetragen. Am selben Tag, an dem het Nederlands elftal die niederländische Fußball-Nationalmannschaft sein letztes Gruppenspiel gegen Irland verlor und sich so nicht für die Weltmeisterschaft qualifizieren konnte, verlor die deutsche Nationalmannschaft ihr letztes Gruppenspiel gegen England 1:5 in München. Die Mannschaft konnte sich aber über die Relegation gerade noch für die Weltmeisterschaft qualifizieren. Und da zeigten die Deutschen ihr hässlichstes Gesicht: ihre Schadenfreude.

Bundesbärendienstkreuz

Vielleicht meint ihr, Schadenfreude sei ein typisch deutsches Wort? Da kann ich dich beruhigen: Bei uns heißt es leedvermaak:

geen schoner vermaak dan leedvermaak Schadenfreude ist die schönste Freude.

Aber es war für mich wirklich nicht schön: Im August hatte ich eine Stelle als Niederländischlehrer an einer deutschen Schule angetreten und nun ja, ich musste da einiges aushalten, um es mal etwas euphemistisch zu sagen. Von mir aus könnte man Helmut von Mallorca, der das Lied „Ohne Holland fahren wir zur WM“ verfasst hatte, gerne das Bundesbärendienstkreuz verleihen, für seine Bemühungen um schlechte internationale Beziehungen.

Die unerwartete Wende

Wie lange sollte ich noch Geduld haben? Auch 400 Jahre etwa? Nun: Es waren exakt vier Jahre! Vier Jahre nachdem Deutschland – völlig unerwartet – Vizeweltmeister geworden war, kam 2006, das Jahr des Sommermärchens!

Die Stimmung im deutschen Lager war im Frühling noch ausgesprochen schlecht: Es hieß, Jürgen Klinsmann könne nach den Gruppenspielen sofort die Koffer packen, die Mannschaft würde sich nur blamieren. Aber es kam ganz anders. Nicht, dass ihr da jetzt Weltmeister geworden seid, o nein – im Gegenteil – ihr habt ja nur den Trostpreis – oder im guten Schadenfreudensdeutsch: die Goldene Ananas – gewonnen.

Das Besondere war, dass das euch egal war. Ihr habt euch gefreut wie die Weltmeister. Ihr wart stolz, Deutsche zu sein und das ohne Beigeschmack. Und das Wetter war traumhaft. Ich traue mich jetzt schon zu sagen, dass sich 2006 als schönster Sommer des 21. Jahrhunderts herausstellen wird. Und Strahlemann Beckenbauer wurde zum Botschafter des anderen, des Man-muss-auch-jönnen-können-Deutschlands“. Und er hat, finde ich, all das wieder gutgemacht, was Helmut von Mallorca vier Jahre davor kaputt gemacht hatte.

Kuchen

Nachdem ich nach Deutschland gezogen war, fragten mich meine niederländischen Bekannten und Verwandten öfters, wie das nun sei, in Deutschland zu leben. Ich habe damals oft geantwortet, dass ich die Deutsche wahrscheinlich mehr mochte, als sie sich selbst mochten. Denn, das muss ich euch sagen, ihr seid ein sehr selbstkritisches Volk. Euer Gefühl für Selbstrelativierung, sprich: euer Gefühl für Humor, ist überall berüchtigt.

Ich mag aber eure Emsigkeit, eure Höflichkeit und eure Gastfreundschaft. Und ich mag vor allem euren Kuchen. Ich war denn auch froh, dass ich nach 25 Jahren Deutschland, auf meiner Silberhochzeit, vom Sommermärchen erzählen konnte. Von dem Sommer, in dem die Deutschen angefangen hatten, sich selbst zu mögen. Seit meiner Ansprache sind die Fragen verstummt und jeder sieht, dass ich in Deutschland angekommen bin.

Über den eigenen Schatten springen

Aber wie ging es nach dem Sommermärchen weiter? Ich denke, ihr wisst, was ich meine, wenn ich sage, 2015 sollte auch ein Sommermärchen werden. Die „Wir-schaffen-das-Ansprache“ der Bundeskanzlerin sollte das Beste aus den Deutschen herausholen, aber es kam anders.

Ich fürchte, dass Merkels Ansprache Europa gespalten hat und es ist noch nicht abzusehen, wie die Geschichtsschreiber am Ende des 21. Jahrhundert darüber urteilen werden. Aber dieser Aufruf, über den eigenen Schatten zu springen, hat durchaus Bewunderung geweckt. Auch unter den Niederländern. Das könnt ihr mir glauben.

Dialog statt Zwiespalt

Und 2020? Dies ist das Jahr der Corona-Krise, aber auch das der Black-Lives-Matter-Bewegung. Diese aus Amerika übergeschwappte Diskussion hat die niederländische Gesellschaft mit voller Wucht getroffen.

Seit Jahren eitert in den Niederlanden die Diskussion um Zwarte Piet, den dunkelhäutigen Gehilfen des Nikolaus, vor sich hin. Im Raum steht die Frage, ob die weißen Niederländer nicht einfach als Rassisten zu bezeichnen sind, wenn sie in der aktuellen Form an die Tradition festhalten.

Die Diskussion ist ziemlich festgefahren, denn alle Niederländer lieben die Nikolauszeit, aber niemand möchte für einen Rassisten gehalten werden.

In der Diskussionssendung M, das im Vorabendprogramm im niederländischen Fernsehen läuft, meinte man: „Auch die Niederlande brauchen einen „Wir-schaffen-das-Moment“. Jetzt sind es die Niederländer, die über ihren Schatten springen müssen. Es wird weh tun. Aber genau wie im Sommermärchen könnte etwas sehr Schönes dabei herauskommen – etwas, von dem wir immer meinten, dass es nicht zu uns passt.

Wünscht uns Glück!

7 Kommentare

  1. Ach ja, Fußball. Hat Mann die Testosteronkrankheit, geht Mann das Risiko ein, sich auch die Fußballkrankheit zuzuziehen. Fürchterlich!!!

    Für mich war die Corona-Inszenierung dahingehend aufschlußreich, da sich so zeigen konnte, wer unsere wahren Freunde sind. Die Dänen machten ängstlich ihre Grenzen dicht, ebenso die Belgier.

    Die Grenzen nach Nederland blieben offen. Ach, was war ich froh, die Deutsche Plutokratische Republik Angstland immer mal wieder verlassen zu können. Bedankt, lieve Nederlanders, en een dikke knuffel! Echte vrienden doen de grenzen niet dicht!

    • Julian Julian

      Tja leider hab ich von keiner Grenze was. Ob sie nun dicht ist oder nicht. Selbst zur nächsten Grenze (Schweiz) ist es noch ein Stück. Eben mal nach NL kann ich leider nicht. :-(

      Ängstlich waren wir deutschen finde ich wegen Corona aber nicht. Wir waren halt vorsichtig. Die Schweden die ja „lockerer“ waren als die meisten anderen Länder sind mit ihren „Sonderweg“ gescheitert.

  2. Jan-Louis Perdok Jan-Louis Perdok

    Ein „Deutsch-Niederländisches“ Sommermärchen
    Bin als 12 Jähriger Schüler 1963 meinen Eltern, die damals in Deutschland berufsbedingt wohnten, gefolgt. Später, durch die Liebe bedingt, immer in Deutschland geblieben. Im Herzen bin ich immer Niederländer geblieben, aber auch sehr gut in Deutschland integriert. Besonders beim Fußball (gerade 1974) sehr gelitten, aber auch riesig gefreut (1988). Habe mir das erste (Köln) und das letzte Spiel (München) live im Stadion, beides gegen die UDSSR, angesehen. Habe damals in München nach dem Spiel das erste Mal die Menschen zwischen Stachus und Rathaus verstanden ( alle in Orange ). 2006 habe ich mir das Spiel NL gegen Portugal in Nürnberg angesehen (Katastrophe). Damit ich bei den künftigen Länderspielen Niederlande-Deutschland nicht mehr so leiden muss, habe ich seit 2 Jahren zu der Niederländischen auch die Deutsche Staatsbürgerschaft. So bin ich immer bei den Gewinnern! Ik geloof, ik meen het niet zo ernstig. Eigenlijk zijn wij alelmaal Europeers!

    • H U U B H U U B

      Hoi Jan-Louis,
      die Frage mit den zwei Staatsangehörigkeiten beschäftigt mich auch. Bis 2006 war mir klar: Ich werde nie die deutsche Staatsangehörigkeit annehmen. Nach 2006 sag ich es anders: Ich werde nie die niederländische Staatsangehörigkeit aufgeben. Zwei Staatsangehörigkeiten wären für mich vielleicht eine Lösung, aber ich meine, die Niederländer erlauben das nicht. Ich finde das auch OK. Ich bin schon längst froh, dass für mich die Frage zu Ruhe gekommen ist.

      • … ich meine, die Niederländer erlauben das nicht.

        Dazu habe ich mal einen Artikel geschrieben, Huub. Es ist der am meisten kommentierte Beitrag hier im Blog. Unter bestimmten Voraussetzungen kann man die deutsche Staatsbürgerschaft annehmen und die niederländische behalten:

        Doppelte Staatsbürgerschaft – nicht für mich

  3. Seit über 60Jahre haben wir Freunde in “Holland”. Meine Frau wurde in den 1950zigern als Flüchtlingskind aus Schlesien nach Brabant verschickt. Auf einen Bauernhof. Ohne ein Wort Nederlands zu verstehen lernte sie in kurzer Zeit Niederländisch (Brabants.) Nun sind meine Frau und ich über 70 und unsere Freundschaft zu unseren “ Holländern” hält immer noch. Mittlerweile gehören die Kinder und Enkel auch zu unseren Freunden. Eigentlich zur Familie. Wir sehen uns nicht mehr so häufig, das Alter fordert seinen Preis. Aber wenn wir uns sehen, ist es so als ob wir uns erst vor kurzem getrennt hätten.

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