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Wenn die Fremdsprache keine mehr ist

Last updated on 14-01-2024

Friesisch.

Im Pflegeheim in einer mittelniederländischen Kleinstadt kehrte meine demente Oma wieder zu ihrer Muttersprache zurück. Das Personal verstand sie nicht.

Manchmal frage ich mich, ob mir als Niederländerin in Deutschland etwas Ähnliches bevorsteht. Niederländisch ist die Sprache meiner Kindheit und meiner Jugend. Die, in der ich studiert und auch gearbeitet habe.

Ich war dreißig, als ich nach Deutschland zog. Sprachlich gesehen steinalt.

Balkon.

Ich weiß noch den Moment, als ich dieses Wort zum ersten Mal spontan “richtig Norddeutsch” aussprach. Mit “ng” am Ende. Es war ein Spätsommerabend 1997, ein knappes halbes Jahr nachdem ich Den Haag gegen Hannover getauscht hatte. Nicht wegen der Liebe und nicht wegen eines Jobs. Ich wollte wissen, wie es ist, meinen Alltag in einer anderen Sprache zu erleben.

Ich fühlte mich heimisch. Zugehörig.

Die Fremdsprache war gerade etwas weniger fremd geworden.

Seitdem ich im Ausland lebe ist mir noch klarer geworden, wie sehr Sprache – also die Art, wie ich mich ausdrücke, mitteile und mit anderen Menschen verständige – Teil meiner Identität ist.

Ich bin meine Sprache. Neben Kommunikations- und – durch meinen Redakteursalltag bedingt – Arbeitsmittel, ist Sprache mein Instrument. Wenn ich spreche oder schreibe, scheint etwas von meiner Seele durch.

Drei Sprachen wohnen in meiner Brust

Meine Muttersprache, Niederländisch, wird mir vermutlich immer am nächsten bleiben. Es ist die, in der ich meinen Schwestern Gutenachtgeschichten erzählt habe und die, in der ich mit meinen Katzen rede. Die, in der meine Mutter und ich wetteifern im trockenen Humor. Und die, in der ich fluche.

Wenn meine Sprachen ein musikalisches Ensemble wären, wäre Niederländisch die Sängerin. Mit einem leichten Hang zur Rampensau.

Dann gibt es Englisch, die Fremdsprache, die eigentlich nie eine war. Die, in der ich als Teenie mit meiner Stiefmutter Cheddar-Tostis gebacken und Lapsong-Souchong-Tee mit viel Milch getrunken habe. Die von “The Lion, The Witch and the Wardrobe” und “The Ship That Flew”. Deren Rhythmus und Klang mich genauso berühren, wie die des Niederländischen.

Englisch ist das Cello in meinem Trio.

Und Deutsch, die Sprache, der ich mich annähern musste. Fast dreiundzwanzig Jahre lebe und liebe, lache und weine ich in ihr. Die Sprache innigster Freundschaften und manchmal tiefster Verzweiflung. Und sogar die, in der ich (eher still und heimlich) dichte.

Deutsch ist das Klavier.

Drei Sprachen wohnen in meiner Brust. Ich würde es nicht anders haben wollen.

33 Kommentare

  1. Annemarie Mennink Annemarie Mennink

    Wat een mooi verhaal, Alex !
    Je liefde voor taal, muziek en je medeschepselen is duidelijk.
    Dank je wel.

  2. Lucy van Pelt Lucy van Pelt

    Sängerin, Cello und Klavier – was für ein schönes Orchester! Und was für eine gute Beschreibung! Klasse, Alex.

  3. Nicolas Nicolas

    Liebe Alex, Du schreibst „Ich bin meine Sprache“. Ein sehr bedeutender Satz! Man kann es auch wie Ludwig Wittgenstein sagen: „Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt“. Sprache ist also der Raum für unser Denken. Aber was geschieht bei mehreren Sprachen? Sind es mehrere Grenzen? Im Gegenteil. Denn er sagte auch, dass uns die Sprache wie eine Brille auf den Nase sitzt. Mehrere Sprachen sind mehrere Brillen für die Nase und mehrere Räume für das Denken.

  4. Janine Janine

    Liebe Alex,
    danke, dass du dieses schöne Familienbild mit deinen Lesern teilst!
    Und die Darstellung der Liebe zu „deinen“ 3 Sprachen ist wundervoll!

    Ich lerne seit ungefähr einem Jahr Niederländisch und bin daher auf deinen Blog gestoßen – und habe wahrscheinlich fast jeden Artikel gelesen.
    Ich freue mich sehr, dass du derzeit wieder öfter neue Einträge schreibst, ich bin ein großer Fan von dir und von den Niederlanden.

    Viele liebe Grüße

  5. Oliver Oliver

    Heel mooi, Alex!
    Bei mir sind es die gleichen Sprachen inzwischen, nur dass Deutsch die singende Rampensau wäre. Ich erlebe eher Englisch als Klavier, und auf dem niederländischen Cello spiele ich gern, aber manchmal noch etwas unbeholfen oder auch mal falsch. Trotzdem ertappe ich mich inzwischen manchmal dabei, dass es plötzlich laut und kräftig wird und das Thema vorgibt und das englische Klavier vorübergehend staunend ins Piano wechselt ;-)
    Das hätte ich angesichts der Tatsache, dass ich seit langem englisch spreche, ohne nachzudenken und erst vor drei Jahren begonnen habe, mich dem Niederländischen anzunähern, nie gedacht.

  6. Tja, alt werden. Ich kannte früher in Holland einen deutschen Professor, der als sehr alter Mann die niederländische Sprache verlor. Er sprach nur noch Deutsch. Die Haushälterin, die sich rührend um ihn kümmerte, konnte ein wenig Deutsch, aber nicht sehr viel. Dann hat er sie in seinem Krankenbett immer wieder korrigiert: in DEM Haus, nicht in DAS Haus, usw.
    Man kann doch nur hoffen, dass man nicht so alt wird. Oder besser: so nicht alt wird.

  7. Also jetzt nicht still und heimlich mehr!
    Und dein Tagebuch schreibst du auf Niederländisch, habe Ich gespürt ;-)

    • Genau Kitty: Tagebuch auf Niederländisch, Gedichte auf Deutsch :)

  8. Birgit Birgit

    Ja, wirklich schön geschrieben, Alex. Und schön, dass wir wieder öfter von dir hören. Danke!

  9. Hallo Alex, ein sehr schöner Artikel. Die Metafor gefällt mir gut.
    Ich bin Deutsche und somit ist Deutsch meine Muttersprache. Seit dem 22. Lebensjahr wohne in den Niederlanden. Niederländisch ist meine Alltagssprache, in der ich mich prima verständigen kann. Sogar besser als wie im Augenblick im Deutschen. Dies ist verrostet. Jetzt, wo ich älter werde und das Heimweh nach Deutschland grösser wird, vermisse ich auch die deutsche Sprache mit ihren schönen Redewendungen und den vielen vielen Wörtern und ihren Feinheiten. Siehe Thomas Mann. Ich erwarte auf die Dauer, dass mir deutsche Wörter schneller und geläufiger werden.
    Ich sprach mal auf einer niederländischen Hochzeitfeier mit einer alten Dame aus Deutschland. Fast jedes zweite Wort war deutsch. Ich bereite mich langsam auf diesen Wandel um. Liebe Grüsse aus Holland.

    • Jetzt, wo ich älter werde und das Heimweh nach Deutschland grösser wird, vermisse ich auch die deutsche Sprache mit ihren schönen Redewendungen und den vielen vielen Wörtern und ihren Feinheiten.

      Das kann ich gut verstehen, Sabine. Vielleicht ist es eine Möglichkeit, öfter mal für ein paar Tage oder länger nach Deutschland zu fahren und dort ein bisschen Zeit zu verbringen. So mache ich es umgekehrt auch, und das tut mir sehr gut.

      • Hallo Alex, danke dir für’s Verständnis. Andere Möglichkeit ist den Kontakt zu Deutschen Freundinnen in den Niederlande pflegen. Ich wünsche dir schöne Weihnachtstage.

  10. Jobst Ubbelohde Jobst Ubbelohde

    Hi Alex,

    Fremdsprache, Muttersprache, Heimatsprache. Meine Kinder sind in Deutschland geboren und aufgewachsen. Mit ihrer niederländischen Mutter sprachen und sprechen sie Deutsch – ihre Muttersprache. Auch daheim am Küchentisch wurde niederländisch gesprochen. Als die Kinder in den Kindergarten/in die Schule kamen änderte sich das. Sie sprachen zunehmend untereinander und zuhause Deutsch – ihre Heimatsprache. Am Schönsten aber wenn beide Sprachen durcheinander gehen. Ein Duett oder eine Kakofonie?

    • Am Schönsten aber wenn beide Sprachen durcheinander gehen.

      Das ist bei uns in der Verwandtschaft auch so, Jobst :) Und das schöne ist: Wir verstehen uns alle irgendwie. Ich liebe diese „Mehrstimmigkeit“.

  11. Rainer Kakuska Rainer Kakuska

    Alex, komm an mein Herz! Dein Artikel hat mich eben zu Tränen gerührt, ganz letterlijk. Wie du bin ich seit der Jugend ein Wanderer zwischen den Sprachen, erst Englisch, dann Spanisch und Französisch. Daneben hatte ich aber immer eine heimliche Liebe zu Nederlands, und vor ein paar Jahren bin ich ihr gefolgt, um ein Jahr in Amsterdam zu wohnen (Westerdok) Ein lieber Kumpel aus dem stamkroeg hat mich einmal pro Woche unterrichtet, den Rest besorgte Radio Noord-Holland. Neulich habe ich sogar ein Gedicht auf Nederlands geschrieben. Interessiert es dich?
    Keep up your wonderful work!
    Rainer

    • Ach lieber Rainer, danke! Dann haben wir eine ähnliche Geschichte. Dein Gedicht habe ich gelesen – danke dafür. Ich antworte dir noch per Mail.

  12. Wolfgang Niedecken hatten einen Schlaganfall. Danach konnte er zunächst gar nicht sprechen, dann ging Kölsch, dann erst später wieder Hochdeutsch. Zumindest bei manchen sitzt die Muttersprache sehr tief.

    Auf der anderen Seite gibt es Leute, die ihre Muttersprache vergessen haben, z.B. Isaac Asimov (Russisch, obwohl Yiddish auch seine Muttersprache war, die er nie vergaß) und Jacob Bronowski (Polnisch). Ob sie bei Demenz zurückgekehrt wären? In diesen Fällen wahrscheinlich nicht.

    Es gibt Leute, die sehr eng mit der Muttersprache verbunden sind. Andere lernen eine zunächst fremde Sprache und werden in ihr heimisch. So etwas gibt es auch bei Wohnorten: manche vermissen immer die Stelle ihrer Kindheit, manche sind froh, weg zu sein.

    • Rrrainer Rrrainer

      Es haengt wohl auch davon ab, wie man zu seinen früheren Erinnerungen steht. Ich habe mich z.B.in der Jugend regelrecht ins Englische gefluechtet, um quasi meine eigene Sprache zu haben, also aus Protest. Heute ist es für mich fast wie Muttersprache, ich kann oft gar nicht sagen, was ich gerade spreche oder lese. In vielen Gegenden der Welt ist ja auch Mehrsprachigkeit die Norm. Auf jeden Fall ein faszinierendes Thema.

    • Paul R. Woods Paul R. Woods

      Kam Isaac Asimow nicht aus der Ukraine – die ihre eigene Sprache hat. Nun ja, als 3-jähriger hat er sie ja verlassen.

  13. Andrea Andrea

    Oh mein Gott, Balkong – das kenne ich so gar nicht.
    Balkon – ohne „g“ – das sagt man in Österreich so.

    Herzliche Grüße

    Andrea

  14. Cosmo Cosmo

    Sehr schön beschrieben! Und dazu im allerbesten Deutsch!

  15. Martina Herda Martina Herda

    Obwohl mein Seelenorchester aus drei anderen Sprachen besteht, nämlich aus Deutsch (Muttersprache und Klavier), Französisch (der helle Klang der silbernen Querflöte) und Italienisch (der dunklere Klang der hölzernen Traversflöte), sprichst du mir aus der Seele.
    Jede Sprache bringt andere Saiten meines Gesamtklangkörpers, also verschiedene Seiten meines Charakters, zum Klingen.
    Wer viele Sprachen auf hohem Niveau beherrscht, hat ein bunteres, ein reicheres Leben!
    Und er entwickelt aufgrund seiner Erfahrungen in anderen Ländern genug Fantasie, um sich vorstellen zu können, dass man auf unterschiedliche Weise gut leben kann: nicht schlechter, nicht besser, nur anders. Dieses Vorstellungsvermögen ist die Basis für Toleranz!

    • Liebe Martina, wie schön, dass du meine Geschichte nachempfinden kannst und es dir ähnlich geht.

      Zwei verschiedene Flöten und Klavier – schöne Musik!

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