Last updated on 22-03-2018
Von Berlin nach Amsterdam mit dem Fahrrad. In diesem Gastartikel beschreibt Reinhard Niewerth aus Braunschweig seinen Plan für einen Fernradweg, der beide Haupstädte verbinden soll.
Es gibt kaum eine intensivere Möglichkeit, die Niederlande, Deutschland und die Unterschiede beider Länder zu „erfahren“, als eine Radtour von Amsterdam nach Berlin!
In diesem Satz verbirgt sich ein kleines Wortspiel, das für Nicht-Muttersprachler erklärungsbedürftig sein dürfte: Im Deutschen kann man einer Reihe von Verben die Vorsilbe „er-“ voranstellen, um damit eine zielgerichtete Handlung zu betonen oder einen Zugewinn auszudrücken. Beispielsweise kann man in Deutsch einfach nur wandern – oder aber sich eine Ferienregion erwandern, also durch ausgiebige Wanderungen sehr intensiv kennenlernen.
Bei fahren ist diese Erweiterung kaum gebräuchlich, zumindest nicht in seiner Bedeutung als Bewegungsverb: Ein Radrennfahrer kann sich das „Gelbe Trikot“ erfahren. Ansonsten kommt erfahren aber in zahlreichen Redewendungen als Verb in Verwandtschaft zu „Erfahrungen“ vor, z. B. „Neuigkeiten erfahren“, „Wertschätzung erfahren“.
Aus dieser Doppeldeutigkeit hat sich im Deutschen ein kleines Wortspiel entwickelt, das gerade langsame und nachhaltige Fortbewegungsarten wie das Fahrradfahren mit einem ganz intensiven Aufsaugen von Eindrücken und Erfahrungen assoziieren will. Und diese Assoziation hat ihre Berechtigung: Wer ein Land wirklich kennenlernen will, darf sich nicht auf eine Städtereise in seine Hauptstadt beschränken, sondern muss das ganze Land bereisen und dabei möglichst nicht nur durch die Windschutzscheibe an sich vorüberziehen lassen.
Interessante Städte
Ein Blick auf die Landkarte zeigt, dass sich ziemlich genau auf der Luftlinie zwischen Amsterdam und Berlin eine attraktive Städtekette anbietet, die Radtouristen als interessante Etappenziele mit vielfältigen Angeboten an Gastronomie und Unterkünften dienen können.
In den Niederlanden sind das Amersfoort, Apeldoorn, Deventer und Enschede (oder alternativ Utrecht und Arnhem) und auf deutscher Seite Bad Bentheim, Osnabrück, Minden, Hannover, Braunschweig, Helmstedt, Magdeburg, Brandenburg und Potsdam.
Private Initiative
Aber das Erstaunliche ist: es gibt diesen Fernradweg Amsterdam-Berlin heute offiziell noch nicht. Daher habe ich ein privates Projekt gestartet, ihn zu initiieren und mit Hilfe der Schwarmintelligenz des Internets zu optimieren:
www.bike-amsterdam-berlin.info.
Die Website beschreibt die aktuell geplante Streckenführung und stellt noch verbesserungswürdige Teilstrecken dar.
Zusätzliche Informationen über Sehenswürdigkeiten im Streckenverlauf und empfehlenswerte Abstecher machen schon heute Appetit, sich auf den Weg zu machen, denn der Weg ist mit geringfügigen Einschränkungen heute schon gut befahrbar, allerdings nicht ausgeschildert.
Ich hoffe, dass das Projekt dann mittelfristig so viel öffentliche Aufmerksamkeit erregen wird, dass Behörden und Politik sich ihrerseits des Projektes annehmen werden (z. B. Wegeausbau, Ausschilderung).
Kulturelle Unterschiede
Bei meinen Erkundungsfahrten stelle ich unwillkürlich immer wieder Vergleiche zwischen niederländischen und deutschen Verhältnissen, Lebensart und Denkweisen an. Die pragmatischere und unbürokratischere Art der Niederländer wird häufig in deutsch-niederländischen Business-Tipps beschrieben, und auch bei touristischen Themen und in der Verkehrsplanung beobachte ich sie immer wieder gerne. Vielleicht war sie auch mitverantwortlich für die heutigen Dimensionen des Radverkehrs in den Niederlanden?
Radreich
Hier noch einmal die paradiesischen Verhältnisse im niederländischen Radwegenetz darzustellen, wäre nur eine weitere Kopie unter Tausenden. Gewöhnungsbedürftig für deutsche Radtouristen in den Niederlanden ist allerdings der manchmal erschreckend geringe Abstand, mit dem Autofahrer Radfahrer überholen, wenn der Radverkehr auf normalen Straßen geführt wird – trotz der markierten Schutzstreifen am Fahrbahnrand.
Ebenso unbehaglich ist in größeren Städten die riskante Fahrweise von Pizzaboten, die auf ihren Motorrollern – legalerweise – durch den Radverkehr pflügen.
Trotzdem passieren in den Niederlanden relativ wenig Unfälle zwischen motorisierten Verkehrsteilnehmern und Radfahrern. Das liegt in erster Linie daran, dass Niederländer immer und überall mit Radfahrern rechnen müssen (und das auch tun), während in den meisten Regionen Deutschlands Radfahrer weitaus seltener unterwegs und damit in den Köpfen der Autofahrer weniger präsent sind, so dass schon mal gerne der Blick über die Schulter beim Rechtsabbiegen vergessen wird.
Schutz für schwächere Verkehrsteilnehmer
Eine wichtige Rolle spielt in dieser Hinsicht auch die Gesetzeslage in den Niederlanden, nach der Autofahrer bei einem Unfall mit Radfahrern und Fußgängern in jedem Fall zu 50 Prozent haften. Das gilt auch, wenn der Radfahrer bzw. Fußgänger die Schuld trägt. Ausgenommen sind lediglich grobe Fahrlässigkeit und höhere Gewalt.
Bei Unfällen mit Fahrrad fahrenden Kindern jünger als 14 Jahren haften Autofahrer sogar vollständig für den Schaden des Radfahrers, auch wenn das Kind den Unfall verschuldet hat.
Fahrradzählanlage bei Deventer
Grachtengastronomie
Für deutsche Verhältnisse wäre es völlig undenkbar, die Tische von Kneipen und Cafés ohne jede Absturzsicherung direkt am Rand von Grachten zu platzieren – ohne Geländer, Warnschilder und Rettungsring ginge hier in Deutschland gar nichts.
Die Niederländer setzen dagegen auf Eigenverantwortung und genießen die Atmosphäre und Geselligkeit am Grachtenrand! Bei den Platzverhältnissen in Amsterdam und 8 Millionen Gästeübernachtungen pro Jahr haben sie auch gar keine andere Wahl.
Allerdings werden in Amsterdam jährlich tatsächlich etwa 15 Tote aus den Grachten gefischt, denen aber nicht „leichtsinnig“ platzierte Kneipentische zum Verhängnis wurden, sondern ihre volle Blase auf ihrem einsamen Nachhauseweg nach reichlich Alkoholgenuss: Die Opfer sind nach Statistiken der Gerichtsmediziner mehrheitlich Männer und haben einen offenen Hosenschlitz.
Deshalb hier die Grundregeln für jeden Grachtenstadt-Touristen: Kenn dein Limit, geh nicht allein nach Haus und vor allen Dingen: nie in Grachten pinkeln!
Die nächsten Beispiele für niederländische Andersartigkeit entgehen den klassischen Städtetouristen vollständig:
Fährvergnügen
Bei den vielen Wasserwegen in den Niederlanden lohnen sich nicht überall Brücken oder ein regulärer Fährbetrieb, wenn dort nur Fußgänger und Radfahrer in geringerer Anzahl queren wollen. Daher findet man nicht selten unbemannte Handfähren, die die Fährgäste mit einem Kurbelantrieb selbst bedienen müssen. In Deutschland gibt es solche Fähren nur sehr vereinzelt (im Emsland oder in der Grafschaft Bentheim).
Für deutsche Verhältnisse bemerkenswert ist die ebenfalls unbemannte Gierseilfähre „Quertreiber“ über die Lippe bei Wesel, die zum Antrieb die Flussströmung ausnutzt und zu Spitzenzeiten von 750 Personen am Tag benutzt wird. Solche Fähren könnten in Deutschland viel häufiger zum Einsatz kommen und kostengünstige Verbindungen für Fußgänger und Radfahrer schaffen. Vermutlich müssen wir dazu erst einmal einige Informationsdefizite und Sicherheitsbedenken in deutschen Verwaltungen überwinden.
Na-Tour
Der geplante Routenverlauf Amsterdam-Berlin führt über längere Strecken durch Naturschutzgebiete und Nationalparks, z. B. durch den Veluwezoom bei Arnhem.
Für einen deutschen Radtouristen ist es schon ziemlich erstaunlich, welche komfortablen Radwege durch solche Schutzgebiete führen. Gut befestigt und meistens asphaltiert, ausreichend breit und oft sogar mit einer eingezeichneten Leitlinie in der Mitte – nach deutschen Maßstäben sind das keine Radwege, sondern Fahrrad-„Autobahnen“. Daneben, aber nicht streng parallel, verlaufen meistens noch eigene Wege für Fußgänger und für Reiter. Wenn diese Wege Straßen queren, hat der Radverkehr Vorfahrt! Sightseeing durch die Windschutzscheibe ist hier kaum möglich und verpönt.
Wer dagegen umweltschonend unterwegs ist, wird in den niederländischen Nationalparks nicht ausgesperrt, sondern ist herzlich eingeladen! Natürlich bedeutet das gerade für sehr sensible Tierarten etwas mehr Störungen gegenüber der meist restriktiveren Schutzpraxis in Deutschland. Aber in Summe dürfte der Nutzen überwiegen, denn „man schützt nur, was man kennt“ und während in Deutschland das ewige Tauziehen zwischen Naturschutzbehörden und Touristikern so manches Projekt auf Eis liegen lässt, hat man in den Niederlanden offenbar ein erfolgreiches Miteinander gefunden.
Das waren nur ein paar Beispiele. Nach meiner Einschätzung können wir bei unseren niederländischen Nachbarn viel lernen – und in umgekehrter Richtung natürlich genauso.
Voneinander lernen
Das gilt für informelles Lernen aus der Touristenperspektive ebenso wie für institutionalisiertes Lernen: Angehende Englischlehrer müssen ein mehrmonatiges Praktikum in einem englischsprachigen Land absolvieren – warum sollten deutsche Verkehrsplaner in ihrer Aus- und Weiterbildung nicht standardmäßig niederländische Radverkehrslösungen live erfahren und dazu ein paar Wochen Praktikum im Sattel und in niederländischen Planungsbüros genießen? Die Sprachbarriere ist gar nicht so hoch, tun wir’s doch einfach und kommen mal runter von unserem hohen Ross, das wir Deutsche in Bildungsfragen immer noch gerne reiten!
Bedingt durch meine Neugier für das andere Land habe ich mich bei meinen Betrachtungen mehr auf die niederländischen Verhältnisse fokussiert. Aber auch die andere Blickrichtung sollte nicht zu kurz kommen; vielleicht mag hier mal ein niederländischer Radtourist über seine Impressionen berichten und seine Sicht der Dinge anfügen?
Alle Bilder in diesem Beitrag, bis auf das Titelbild: © Reinhard Niewerth
„Bei den vielen Wasserwegen in den Niederlanden lohnen sich nicht überall Brücken oder ein regulärer Fährbetrieb, wenn dort nur Fußgänger und Radfahrer in geringerer Anzahl queren wollen. Daher findet man nicht selten unbemannte Handfähren, die die Fährgäste mit einem Kurbelantrieb selbst bedienen müssen. In Deutschland gibt es solche Fähren nur sehr vereinzelt (im Emsland oder in der Grafschaft Bentheim).“
Nicht nur dort, auch am linken Niederrhein.
Es ist eine gute Idee, die Route im Osten etwas südlich zu legen. Beim Lesen sah ich erst Gardelegen und Stendal vor mir; das wäre eine ziemliche Durststrecke gewesen.
Kennst Du die Gegend dort gut, Emigrant? Von Deinen Erfahrungen könnte Reinhard bestimmt profitieren :-)
Nein, kenne ich leider nicht, bin nur einmal durchgefahren, und nicht mit dem Fahrrad.
Ach schade, hätte ja sein können.
Lachen musste ich, als ich
„der manchmal erschreckend geringe Abstand, mit dem Autofahrer Radfahrer überholen“
las.
Was bitte ist denn ein erschreckend geringer Abstand?
Bei meinem Fahrten auf der Straße streift man mich regelmäßig FAST mit dem Außenspiegel am Ellbogen — da kann mich nichts mehr schocken.
Du meinst hier in Deutschland, nehme ich an, Frau Vorgarten? Da habe ich was das angeht auch schon haarsträubendes erlebt.
Immerhin sind die niederländischen Autofahrer viel besser auf den Faktor Fahrradfahrer eingestellt. Das Miteinander klappt in dem täglichen Miteinander recht gut.
zu diesem interessanten Bericht möchte ich etwas hinzufügen.
Obwohl die Strassenverhältnisse für die Sicherheit und das Wohlbefinden von Radfahrern sehr wichtig sind, fehlt in Holland ein Element das für Radfahrer auf Langstrecken von grosser Bedeutung ist. In einem Flachland nahe dem Meer ist der Wind oft anwesend. Windrichtung und -stärke zu kennen gehört zu der Vorbereitung einer Fahrradtour.
Leider wird in den stündlichen Nachrichten im bedeutendsten Radiosender Hollands, Radio 1, nur noch bei Sturm etwas vom Wind erwähnt. Weiter nichts.
Für Radfahrer auf Langstrecken sind Informationen über was der Wind machen wird doch wichtig. Holland gibt gerne gross an über was für Radfahrer gemacht wird; ideal ist es aber doch nicht wenn der Radfahrer nicht weiss, wie es mit dem Wind sein wird.
Wie wichtig Kenntnisse über Windumstände sind zeige ich am Beispiel der alternativen Routen zwischen Amsterdam und Enschede.
Bei bei starkem Wind im Rücken ist von der zu verbrauchenden Energiemenge her eine Strecke mit mehr offener Landschaft relativ günstig zu einer mehr bewaldeten Strecke. Bei anderen Windverhältnissen und der Fahrt in Gegenrichtung wird die Entscheidung anders ausfallen können.
Mit freundlichem Gruss,
Tom (auch Radfahrer auf längeren Strecken)
Hallo Tom,
die meistens vorherrschenden westlichen Winde waren tatsächlich ausschlaggebend dafür, dass ich den Fernradweg Amsterdam-Berlin und nicht Berlin-Amsterdam getauft habe und in dieser Richtung auch auf meiner Homepage beschreibe.
Ich war bei meinen Erkundungsfahrten aber auch immer wieder überrascht, wie häufig die Strecken im Wald verlaufen. Es gibt nur wenige Abschnitte, wo man über längere Strecken durch sehr offene Landschaften fährt, wo man kaum Windschutz hat.
Viele Grüße
Reinhard
Hallo Reinhard und Alex,
ich hatte Reinhard vorgeschlagen mit dem Rad durch den Flevopolder zufahren, vorbei an die wunderschönen Tulpenfelder (ca. in Mai jedes Jahr) Jetzt habe ich das VVV in Lelystad angeschrieben wegen eine Route, der Reinhard braucht knotenpunkte (was immer das sein mag). Leider Antworten die nicht, deshalb frage ich hier mal ob jemand eine schöne strecke durch „de Flevopolder“ kennt oder nur kurze schöne strecken die man (Reinhard :-)) dann aneinander binden kann. Ich möchte Reinhard so gerne helfen aber aus Hamburg geht es schwer, wir sind also auf Alex Ihre hilfe angewiesen.
Ja Alex ich weiß ich misbrauche deine Seite aber Du darfst nicht vergessen das es dann mehr Touristen für unser kleines Land gibt und die haben alle Euros in der Tasche, die sie da lassen werden *fg …..also es ist für ein guten zweck.
LG
Rob
PS. ich bin selber, vor Jahren als ich noch jung und schön war, mal eine schöne durch de Polder gefahren und werde es nie vergessen, leider hat sich aber in die Jahre vieles geändert (wo nicht?)
Hi Rob,
ich kann Euch zwar nicht aktiv unterstützen, aber Deinen Aufruf veröffentliche ich hier gerne!
Mein Anliegen mit den Knotenpunkten ist schnell erklärt: In Deutschland kennt man „Malen nach Zahlen“. In den Niederland kann man sehr komfortabel „fietsen nach Zahlen“: Alle wichtigen Radwegkreuzungen in den Niederlanden haben eine Nummer, die vor Ort ausgeschildert ist und auch zwischen den Knotenpunkten immer wieder auf den Radwegweisern referenziert wird.
Hier ein Beispiel für einen Kartenauszug mit Knotenpunkten:
https://www.buurtaal.de/wp-content/uploads/2014/10/Knotenpunkte_Lelystad.jpg
Nach diesem Nummernsystem kann man ganz einfach Routen (auch ohne Landkarte) fahren, wenn man sich vorher die Nummernabfolge dafür notiert hat.
Das System ist schön zu sehen z. B. im Internet auf http://www.opencyclemap.org, und natürlich sind die Knotenpunkte auch in niederländischen Fahrradkarten eingetragen. Übrigens übernimmt Nordrhein-Westfalen dieses ebenso einfache wie intelligente System auch gerade. Mit Hilfe einer solchen Nummernfolge kann man mir dann auch gut eine Routenempfehlung durch die Polderlandschaft beschreiben.
Vielen Grüße
Reinhard
[…] fietste in drie dagen van Berlijn naar Amsterdam – een hele prestatie. –> Sie radelte in drei Tagen von Berlin nach Amsterdam – eine […]