Last updated on 08-06-2016
In diesem Gastartikel stellt buurtaal-Leser Stephan Cornelius (Oldenburg) das Buch vor, das Christoph Driessen über die Geschichte der Niederlande geschrieben hat.
„Spannend wie ein Abenteuerroman, unterhaltsam wie wissenschaftliches Kabarett“ und „anekdotenreich und mit viel Sinn für Humor“, so feierten die Münstersche Zeitung und GEO Epoche im Jahre 2009 die Neuerscheinung des Buches Geschichte der Niederlande: Von der Seemacht zum Trendland von Christoph Driessen.
Kuriosität
Durch diese Würdigungen wurde seinerzeit beim Autor dieser Buchbesprechung die Neugierde geweckt und die Erwartung an die Lektüre entsprechend hoch gesteckt. Gleichwohl, oder gerade deshalb, sei doch zunächst die Frage gestattet, warum denn nun ein weiterer Autor mit einer Überblicksdarstellung zur Geschichte der Niederlande an das deutschsprachige Publikum herantritt?
Die Antwort auf diese Frage liefert Christoph Driessen dem Leser bereits in den ersten Zeilen zum einleitenden Kapitel seines Buches, die wie eine Referenz in komprimierter Form den Feuilletons das Wort reden:
Das Land, in dem ich bin, ist die größte Kuriosität auf der Welt.“ […]
„Es ist ein einzigartiges Land, es ist wie kein anderes.“ Das wisse im Ausland aber niemand, denn: „Diese Nation ist nirgendwo bekannt, nicht einmal bei ihren Nachbarn. Die holländische Sprache wird nur von ihnen selbst gesprochen.
Dieses doch eher ernüchternde Urteil entstammt nicht etwa einem spitzfindigen Beobachter unserer Tage, sondern es sind die Zeilen aus einem Brief, die der spätere US-Präsident John Adams (1735-1826) als erster Botschafter der Vereinigten Staaten von Amerika in den Niederlanden vor über 200 Jahren an seine Frau schrieb.
Zeitreise
„Eine fesselnde Zeitreise durch sechs Jahrhunderte niederländischer Geschichte“. Mit dieser knappen Überschrift auf der Rückseite des Schutzumschlages wird das im Verlag Friedrich Pustet erschienene Buch von Christoph Driessen beworben. Diese Zeitreise umfasst 304 Seiten verteilt über fünf Kapitel:
Aufstand gegen die spanischen Herrscher
Den Einstieg bildet der historische Rahmen für den Aufstand der Niederlande gegen die spanischen Besatzer, der im 16. Jahrhundert zur Herausbildung der niederländischen Republik führte (Kapitel 1).
Sturm und Drang auf See
Einen breiten Raum nimmt die Expansion der Niederlande zur See- und Handelsmacht ein, die im Goldenen Zeitalter des 17. Jahrhunderts auf der Grundlage eines weltumspannenden Kolonialreiches von einem freien Bürgertum in einer freien Republik getragen wurde und eine Blütezeit des gesellschaftlichen Lebens, der niederländischen Wirtschaft, Wissenschaften und Künste einleitete (Kapitel 2).
Rivalität mit England
Diesem raschen Aufstieg folgte ein Niedergang, dem vor allem risikoreiche Spekulationsgeschäfte und eine sich zuspitzende Rivalität mit der aufstrebenden Seemacht England zugrunde lag und der die Niederlande im 18. Jahrhundert ins politische und wirtschaftliche Abseits drängte.
Napoleon, Belgien, Niederländisch-Indien
Die Zeit unter französischer Herrschaft, die gescheiterte Wiedervereinigung mit den Südlichen Niederlanden (dem heutigen Belgien), die Verhältnisse in der Kolonie Niederländisch-Indien (dem heutigen Indonesien) im 19. Jahrhundert und die trügerisch ruhigen Jahre am Vorabend des Zweiten Weltkrieges runden das dritte Kapitel ab.
Krieg und Neuorientierung
Einen inhaltlichen Schwerpunkt des Buches bildet ausgehend vom Beginn der deutschen Besetzung der Niederlande im Mai 1940 die Situation im Land während des Zweiten Weltkrieges (Kapitel 4) sowie die Phase der Neuorientierung in der Zeit nach Kriegsende 1945, die unter anderem geprägt war vom Verlust des ostasiatischen Kolonialreiches, von der Gestaltung des Verhältnisses zum Nachbarn Bundesrepublik Deutschland im vereinten Europa wie auch den in den Niederlanden kontrovers diskutierten und von Konflikten begleiteten gesellschaftlichen Entwicklungen, zum Beispiel in der Integrationsdebatte der letzten Jahre (Kapitel 5).
Anspruch und Wirklichkeit
Im einleitenden Kapitel formuliert Christoph Driessen den eigenen Anspruch und das Ziel seines Buches so:
Das Ziel dieses Buches ist es, die dramatische, aber weithin unbekannte Geschichte der Niederlande einem breiten Publikum im deutschsprachigen Raum vorzustellen. Wo immer es möglich ist, wird diese Geschichte am Beispiel einzelner Menschen erzählt. Nicht allen Epochen wird die gleiche Aufmerksamkeit zuteil. Das Hauptinteresse gilt dem Besonderen, dem Prägenden, das die Niederlande zu dem gemacht hat, was sie sind und heute von anderen Ländern unterscheidet.
Diesem Anspruch des Autors wird das Buch auf vorzügliche Weise gerecht: Christoph Driessen hat eine im besten Sinne des Wortes im Plauderton verfasste, gut strukturierte und spannend zu lesende Überblicksdarstellung zur niederländischen Geschichte beginnend mit dem 16. Jahrhundert vorgelegt.
Menschen im Mittelpunkt
Dass historische Strukturen und Prozesse, und damit das, was wir im Allgemeinen unter Geschichte verstehen, von denkenden und handelnden Menschen gestaltet werden und in verschiedenen Epochen und gesellschaftlichen Zusammenhängen einem Deutungswandel unterliegen, dafür bietet die von Driessen gewählte Herangehensweise und Art der Darstellung ein gelungenes Beispiel.
Es werden Menschen in den Mittelpunkt gerückt, die der Autor unter anderem als Monarchen und Politiker, Abenteurer und Seefahrer, Kaufleute und Spekulanten, Künstler und Gelehrte, Adelige und Bürger, Kolonialherren und Sklaven, Täter und Opfer zu Wort kommen lässt und die den Verlauf der niederländischen Geschichte als Akteure ihrer jeweiligen Zeit und in den Auswirkungen ihres Handelns oftmals sogar weit darüber hinaus auf vielfältige Weise beeinflusst haben.
Ihre Geschichte(n) bildet und bilden den roten Faden des Buches, der bei Driessen in die abschließende Frage mündet: „Was ist niederländisch?“ und insofern aus der geschichtlichen Entwicklung des Landes heraus identitätsstiftend für die heutigen Niederlande.
Was ist niederländisch?
Das beliebte Trio bestehend aus „Tulpen, Käse und Windmühlen“ ist als Antwort auf diese interessante Frage sicherlich zu kurz gegriffen. Und Christoph Driessen tut gut daran, wenn er nicht auf solche klischeebehafteten Synonyme für das die Niederlande Prägende zurückgreift, obwohl er sich sehr wohl der Schwierigkeit bewusst ist, in einer Phase des gesellschaftlichen Wandels und der zunehmenden Ausdifferenzierung und Individualisierung der Mitglieder in westlichen Gesellschaften zu bestimmen, was typisch niederländisch ist, zumal es den Niederländer ohnehin genauso wenig wie den Deutschen gibt.
Und dennoch steht für Driessen außer Zweifel, dass in den Niederlanden nach wie vor viele Traditionen im Bewusstsein der Bevölkerung fest verankert sind: zum Beispiel „eine tolerante Grundhaltung, eine Abneigung gegen Extreme, ausgeprägte Kompromiss- und Dialogbereitschaft, weit verbreitete Solidarität mit den Schwächeren.“
Es ist dieses Identitätsstiftende, das Driessen in seinem Schlusswort als geeignete Voraussetzung für die Bewältigung der Herausforderungen sieht, denen die Niederlande in den kommenden Jahrzehnten mutmaßlich gegenüber stehen werden. Von daher muss es überraschen, dass der Autor seine niederländische Geschichte erst im 16. Jahrhundert beginnen lässt. Und es stellt sich der zeitlichen Schwerpunktsetzung des Autors zum Trotz die Frage: Was war davor?
Wasser als Identitätsstifter?
Eher am Rande und erst im Zusammenhang mit den in den 1920/30er Jahren umgesetzten Plänen für das Zuiderzee-Projekt (das heutige IJsselmeer) in Kapitel 3 erfährt der Leser, dass die römischen Eroberer um 50 v. Chr. an der Nordseeküste auf eine aus ihrer Sicht bedauernswerte rückständige Bewohnerschaft gestoßen waren, die es jedoch verstand, sich mit einfachsten Mitteln in einem permanenten Überlebenskampf gegenüber dem Meer erfolgreich zu behaupten.
Dieser Kampf der Niederländer gegen das Wasser und das Leben mit dem Wasser ziehen sich wie ein roter Faden von den ersten Besiedlungsansätzen zwischen Schelde und Ems bis in die Gegenwart.
Kann man dieser für die Existenz der Niederlande zu allen Zeiten zwingenden Notwendigkeit etwas Identitätsstiftendes abgewinnen? Die Antwort fällt nicht schwer: Ja! In einem Land, dessen Territorium in weiten Teilen weniger als einen Meter über dem Meeresspiegel liegt, musste man zwangsläufig früher als anderswo zu der Erkenntnis gelangen, dass tragfähige Lösungen nur im gesellschaftlichen Konsens zu erzielen waren, wenn man überleben wollte.
Konsensmodell
Dieses außerhalb der Niederlande sowohl bewunderte als auch belächelte und vielfach missverstandene sogenannte „niederländische Konsensmodell“ dürfte in diesem ständigen Überlebenskampf der Niederländer mit dem Wasser seinen Ursprung haben.
Es ist in den Niederlanden dann mehr oder weniger erfolgreich auch auf andere gesellschaftliche Bereiche angewendet worden und erfährt mit dem gegenwärtigen Anstieg des Meeresspiegels unter dem Einfluss des Klimawandels eine Aktualität, die zukünftig die vielleicht größte gesellschaftliche Herausforderung für das Land darstellt.
Die Niederlande: ein Trendland?
Es drängt sich deshalb die Frage auf, warum Christoph Driessen in dieser zivilisatorischen Ausformung der Niederländer im Umgang mit dem Wasser nichts Identitätsstiftendes sieht oder sehen will? Dies auch deshalb, weil gerade in diesem Punkt dem abschließenden Urteil Driessens uneingeschränkt zuzustimmen wäre, dass nämlich die Voraussetzungen dafür, die zukünftigen Herausforderungen zu bewältigen, in kaum einem anderen Land der Erde besser sind als in den Niederlanden.
Oder anders gesagt: An kaum einem anderen Ort sind die Erfahrung und die Kompetenz im Umgang mit dem Wasser größer als in den Niederlanden. Es wäre nicht das erste Mal in der Geschichte des Landes, wenn niederländische Wasserbautechnik zum gefragten Exportschlager werden würde.
Der Untertitel des Buches ist insofern zutreffend gewählt: Ja, die Niederlande sind ein Trendland und sie bieten vor dem Hintergrund der anstehenden Aufgaben sogar gute Voraussetzungen dafür, auch zukünftig wichtige, weit über die Grenzen des Landes reichende Impulse zu geben!
Für wen gedacht?
Wer sich einen zeitgemäßen Überblick über die Geschichte der Niederlande verschaffen möchte, der wird das Buch von Christoph Driessen mit viel Freude und Gewinn lesen.
Die gewählte Art der Darstellung macht es dabei auch einer im Umgang mit geschichtlichen Themen wenig vertrauten Leserschaft leicht. Dazu tragen neben der lebendigen, pointierten und auf Personen konzentrierten Erzählweise des Autors vor allem die vielen „Portraits“ und „Stichworte“ bei, die als kapitelbegleitende Exkurse eine Fülle von Informationen zu (historischen) Personen, Ereignissen und Eigentümlichkeiten in den Niederlanden liefern. Diese Einschübe in den laufenden Text fallen bereits beim ersten Durchblättern des Buches als kurzweilige Appetithäppchen angenehm auf und bieten überraschende Einblicke und aufschlussreiche Erkenntnisse.
Es ist insofern auch ein eher an der Geschichte der Niederlande interessiertes (deutschsprachiges) Breitenpublikum, das Driessen mit seiner Arbeit ansprechen möchte. Das wird nicht zuletzt daran deutlich, dass der Autor auf die Benutzung einer Fachsprache konsequent verzichtet und dem Buch kein Quellenverzeichnis beigefügt hat. Während ersteres erfreulich festzustellen ist, kann letzteres zwar den Seitenumfang in einem überschaubaren Rahmen halten, den vielen Wortbeiträgen der Protagonisten hinsichtlich ihrer (wissenschaftlichen) Überprüfbarkeit aber nicht gerecht werden.
Meine Empfehlung
Christoph Driessen ist es gelungen, ein Buch vorzulegen, das dem Leser auf höchst anschauliche und unterhaltsame Weise einen Überblick über die niederländische Geschichte verschafft. Die zeitliche und inhaltliche Schwerpunktsetzung, die sicherlich auch dem begrenzten Seitenumfang geschuldet sein dürfte, hält Driessen nicht davon ab, ein aufschlussreiches, vielfach überraschendes und vor allem vielschichtiges und authentisches Gesamtbild von den Niederlanden zu zeichnen.
Das Buch ist als leidenschaftlich geschriebener, leicht zu lesender und dennoch tiefgründiger Einstieg in die Geschichte und zum besseren Verständnis der Niederlande wie auch als Lektüre zur Vorbereitung auf den nächsten Urlaub in den Niederlanden uneingeschränkt zu empfehlen.
Der Informationsgehalt bezüglich „Land und Leute“ geht über das in der gängigen deutschsprachigen Reiseführerliteratur Gebotene jedenfalls weit hinaus, vom vergnüglichen Leseerlebnis einmal ganz zu schweigen, kurzum: So macht Geschichte richtig Spaß!
Wo erhältlich?
Das 304 Seiten starke Buch ist im Jahre 2009 als gebundenes Hardcover in der Reihe Kulturgeschichte im Verlag Friedrich Pustet, Regensburg erschienen und kostet 26,95 €.
Im Anhang des Buches befinden sich unter anderem eine Zeittafel, eine Literaturauswahl und ein Orts-, Personen- und Sachregister.
Über Christoph Driessen
Christoph Driessen wurde im Jahre 1967 als niederländischer Staatsbürger in Oberhausen in Deutschland geboren. Sein Vater ist Niederländer, seine Mutter ist Deutsche. Driessen wuchs in Deutschland auf und studierte an der Universität Dortmund Journalistik und Geschichte. Nach einem Volontariat beim Westdeutschen Rundfunk (WDR) in Köln zog es Driessen als Auslandskorrespondent der dpa Deutschen Presse-Agentur GmbH zunächst nach Den Haag, London und New York. Seit 2006 leitet er die Niederlassung der dpa in Köln.
Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Christoph_Driessen
Bilder: Die Fotos in diesem Beitrag sind, bis auf das Buchcover (Copyright: Stephan Cornelius) allesamt aus der Online-Sammlung des Rijksmuseums in Amsterdam und können dort frei heruntergeladen werden: https://www.rijksmuseum.nl/en/rijksstudio
Der positiven Rezension kann ich mich nur anschliessen. Mir selber ist das Buch irgendwann Anfang 2010 in die Hände gefallen, als ich eigentlich auf der Suche nach Büchern über die Sprachgeschichte D-NL-GB war. Der Klappentext hat mich neugierig auf das Buch gemacht – und ich habe den Kauf nicht bereut.
Wenn Geschichte in der Schule so präsentiert würde wie in diesem Buch, gäbe es nur gute Noten.
Mir hat das Buch auch sehr gut gefallen. Sprachlich trifft der Autor genau den richtigen Ton – weder zu trocken noch zu flappsig. Der Autor schafft es konsequent, nicht in historischen Zunftjargon zu verfallen – er biedert sich andererseits aber auch nicht beim Leser an.
Die Aufteilung des Buches in fünf übersichtliche und sinnige Kapitel fand ich auch sehr gut. Dem Autor gelingt es hier überzeugend, die niederländische Geschichte zu strukturieren, das Wesentliche herauszuarbeiten und nicht einfach Details an Details zu hängen.
Ebenso gefallen hat mir, dass der Autor sich mit dem moralischen Zeigefinger zurück hält und dennoch nichts unter den Teppich kehrt. Die Gräueltaten der niederländischen Kolonialzeit, der deutsche Massenmord an den niederländischen Juden und die Auswirkungen der NS Besatzungszeit werden ohne Beschönigung beschrieben – aber der Autor überlässt es dem Leser, sich ein moralisches Urteil dazu zu bilden.
Und zuletzt fand ich auch die Gestaltung des Buches sehr gelungen. Hochwertiges Papier, gut lesbare Schriftart, gut gemachte Einschübe/Exkurse zu bestimmten Themen.
Vermisst habe ich ab und zu Abbildungen von Personen – besonders wenn diese im Text detailliert und teilweise auch in ihrem Erscheinungsbild beschrieben werden.
Insgesamt ein wirklich gutes, modernes Geschichtsbuch. Sehr zu empfehlen für Leser, die sich einen seriösen, gut lesbaren aber dennoch nicht zu akademischen Überblick über die niederländische Geschichte verschaffen möchten.
Vielen Dank für Eure Kommentare, Bernd & Max. Schön, dass Euch das Buch auch so gut gefallen hat!