Last updated on 17-01-2018
Menschen, die aus ihrer Heimat fliehen müssen. Das Thema ist von allen Zeiten. Als Folge des Einfalls der deutschen Armee in Belgien im August 1914 flüchteten fast eine Million Menschen in die neutralen Niederlande. Ihr Schicksal wird im Buch „Hoop op Toekomst – Belgische vluchtelingen in Nederland“ beschrieben. Thomas Philipp Reiter stellt es in diesem Gastbeitrag vor.
Eine historische Fluchtgeschichte
Das flämische Gemeinschaftszentrum Den Dam im Brüsseler Auderghem/Oudergem hatte vor kurzem gemeinsam mit dem Davidsfonds und dem Willemsfonds zu einer aussergewöhnlichen Buchpräsentation der niederländischen Autorin Ingeborg Kriegsman geladen. Es handelte sich um das Buch Hoop op Toekomst – Belgische vluchtelingen in Nederland *, herausgegeben 2016 von der Davidsfonds Uitgeverij (25 Euro). Das Thema Flucht und Vertreibung ist heute wieder so aktuell wie damals.
Belgische Flüchtlinge willkommen
Nach dem Einfall der deutschen Armee 1914 in Belgien flüchteten viele Belgier – Flamen wie auch Wallonen – nach Frankreich, England und vielfach in die neutralen Niederlande. Vor allem die bis dahin in der Kriegsgeschichte unbekannten Bombenangriffe aus der Luft gegen die Zivilbevölkerung wie in Antwerpen, aber auch die Gräueltaten deutscher Soldaten in Leuven und Dinant, bei denen mehrere Hundert Zivilisten, darunter viele Frauen und Kinder, aus Vergeltung umgebracht wurden, lösten Fluchtbewegungen Zehntausender Menschen aus.
Die Niederländer wollten ihre Neutralität nicht aufgeben, zeigten sich aber gegenüber den Neuankömmlingen sehr hilfsbereit. Es wurden Flüchtlingslager eingerichtet und den Menschen ein neues Leben ermöglicht. Noch heute stehen in den niederländischen Orten Amersfoort und Ede beeindruckende sogenannte Belgenmonumente zur Erinnerung an die dort früher existierenden Zeltlager.
Anspannung
Was kaum jemand weiss ist, dass die Beziehungen zwischen beiden Ländern nach dem Ersten Weltkrieg aufgrund dieser gemeinsamen Geschichte stark angespannt waren. Die Belgier warfen den Niederländern vor, dass sie sich neutral hielten und nicht an der Seite Belgiens gegen Deutschland gekämpft hatten. Auch dass sie für die Unterbringung geflüchteter belgischer Soldaten nach dem Krieg eine Rechnung aus Den Haag präsentiert bekamen, empfanden sie als ungerecht.
Die Niederländer wiederum erlebten die Belgier aufgrund dessen als undankbar. Das Verhältnis zwischen den Nachbarländern entspannte sich erst wieder nach einem Staatsbesuch von König Boudewijn der Belgier bei den noorderburen in den Fünfzigerjahren.
Alltag im Lager, zwei Perspektiven
Das Buch beschreibt detailreich das Alltagsleben in den Lagern aus Holzbaracken und Zeltstädten. Dem Buch ist eine DVD beigefügt, auf der in einer beeindruckenden Dokumentation die belgische wie auch die niederländische Perspektive eingenommen werden und das ist daher gerade auch für Deutsche interessant. Ein beinahe vergessenes Stück europäischer Geschichte wird so wieder lebendig.
* Der Link führt zur Website von Amazon, wo sich das Buch bestellen lässt. Es ist ein sogenannter affiliate Link, womit du das buurtaal-Blog unterstützt.
Ein Teil meiner Familie flüchtete aus der Tschechei aufgrund der Benesch-Dekrete. Und das war im zweiten Weltkrieg, ein Ereignis, zudem ich mit meinen 61 Jahren nur schwer einen emotionalen Bezug entwickeln kann, weil es doch völlig außerhalb meiner Reichweite ist, verschwunden im Nebel der Geschichte.
Das hier geschilderte Ereignis jedoch liegt noch viel weiter zurück, nämlich in der Zeit des ersten Weltkriegs. Für mich weder mental noch emotional erreichbar.
Da kann man sich leicht an drei Fingern ausrechnen, wie sehr es die heutige Generation Smartphone berühren wird …. und deshalb herrscht hier auch bei den Kommentaren Totentanz.
Ich glaube nicht, dass es an der „Generation Smartphone“ liegt, Patricia. Buchrezensionen gehören zu den Blogbeiträgen, die nun mal am wenigsten kommentiert werden. Es sei denn, sie haben ein kontroverses Thema.
Danke für diesen Beitrag!
Diesen Teil der Geschichte unserer Völker kannte ich gar nicht. Ich habe am Wochenende mit meinem niederländischen Skypepartner darüber gesprochen und er hatte umgehend diesen Link parat, der sich ebenfalls lohnt zu lesen:
http://www.eerstewereldoorlog.nu/blog/boekbespreking-hoop-op-toekomst/
Danke Michael. Interessant!
Ein – wie ich finde – äußerst erschreckender Aspekt zu diesem Thema und zum Ersten Weltkrieg in Westeuropa ist die Tatsache, dass die deutsche Besatzungsmacht in Belgien sehr rasch auf die Flüchtlingsströme reagierte, und zwar mit deutscher „Effizienz“: von Vaals im Dreiländereck bei Aachen bis zur Nordseeküste wurde die niederländisch-belgische Grenze mit einer damals hochmodernen, neuartigen und schrecklichen Grenzanlage „gesichert“, dem sogenannten „dodendraad“ oder, auf amtsdeutsch, dem „Grenzhochspannungshindernis“.
Im Laufe des Krieges fielen diesem Zaun viele Menschen (und auch Tiere) zum Opfer, neben Flüchtlingen auch Schmuggler, Spione und desertierende Soldaten. Zwischen den Orten Sippenaeken und Teuven an der Grenze zwischen Belgisch-Limburg und Niederländisch-Limburg findet sich ein Gedenkstein, der an diesen Zaun erinnert, an einigen anderen Orten weiter westlich wurden kleine Rekonstruktionen zur Erinnerung und als Mahnmal errichtet.
Ich bin in Aachen eher zufällig auf diese geschichtlichen Gegebenheiten gestoßen und war davon sehr betroffen, auch davon, dass ich bisher nie von dieser unmenschlichen Grenzabsperrung gehört hatte.
Ähnlichkeiten zur deutsch-deutschen Grenze zwischen der DDR und der alten Bundesrepublik und zum sog. Eisernen Vorhang insgesamt drängen sich unwillkürlich und eindringlich auf…
https://nl.m.wikipedia.org/wiki/De_Draad
Die Stichting Studiecentrum Eerste Wereldoorlog (http://www.ssew.nl) beschäftigt sich auch mit dem Aspekt.
Und in Amersfoort gab es 2014 eine Ausstellung „Belgen op de vlucht“. Dort ist ja auch ein Denkmal. (https://historiek.net/belgen-in-amersfoort-tijdens-de-eerste-wereldoorlog/45743/)